Zwischen Alarmismus, Wunschdenken und Erwartungsmanagement
Welche Auswirkungen haben demografische Entwicklungen auf das Vertrauen in demokratische Institutionen? Was kann die Demografie zu dieser Frage beitragen? Und wie können demografische Erkenntnisse zur Resilienz der Demokratie beitragen? Dieser Workshop umfasste zwei Perspektiven auf diese Fragestellung, ausgehend von der Annahme, dass negative wirtschaftliche Entwicklungen und regionale Unterschiede in der Daseinsvorsorge die Zufriedenheit und das Vertrauen in demokratische Institutionen schwächen. Aus der demografischen Analyse des Fachkräftemangels und den regionalen Unterschieden in der Daseinsvorsorge resultierten einige Handlungsoptionen für politisch Entscheidende, um auf die Herausforderung der demografischen Veränderungen reagieren zu können.
Dieser Workshop mit Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft, politischen Insitutionen und der Zivilgesellschaft fand am 24. Juni im Rahmen der Berliner Demografietage 2025 statt, die sich in diesem Jahr dem Thema „Demografie und Demokratie“ widmen und gemeinsam von Population Europe und dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) organisiert werden.
English version
Roland Rau – Fachkräftemangel
Roland Rau, Professor für Demografie an der Universität Rostock und Senior Research Scientist am Max-Planck-Institut für demografische Forschung, stellte den Labor Force Replacement Ratio (LFRR) vor. Der LFRR ist ein Instrument zur Messung des branchenübergreifenden Fachkräftemangels. Dem LFRR zufolge wird der Arbeitskräftemangel im Zeitraum 2027–2028 akuter ausfallen als heute, unabhängig von demografischen Faktoren wie Sterblichkeit, Migration oder Fertilität. Zwar wird das branchenübergreifende Fachkräftedefizit in den kommenden Jahrzehnten je nach demografischer Entwicklung unterschiedlich stark zurückgehen. Allerdings ist in den kommenden Jahren mit einem durchgehend hohen Bedarf an Fachkräften zu rechnen.
"Der Arbeitskräftemangel wird aktuer ausfallen, unabhängig von demografischen Faktoren."
Diese demografische Realität ist unvermeidbar. Kaum eine zu erwartende demografische Entwicklung wird für die meisten deutschen Regionen bis 2050 zu einem ausgeglichenen LFRR führen. Ländliche Gebiete werden besonders stark betroffen sein, während der Fachkräftemangel in Stadtstaaten wie Berlin, Bremen und Hamburg etwas geringer ausfallen wird.
"Ein Anstieg der Geburtenrate heute könnte die kurzfristigen Defizite auf dem Arbeitsmarkt noch verstärken."
Strategien zur Abmilderung dieser Auswirkungen haben ernüchternde Grenzen: Die sinkende Sterblichkeit hat keine positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Eine höhere Geburtenrate könnte sich erst nach 2045 auf die Erwerbsbevölkerung auswirken, wenn die heute Geborenen das erwerbsfähige Alter erreichen. Und ein Anstieg der Geburtenrate heute könnte außerdem die kurzfristigen Defizite auf dem Arbeitsmarkt noch verstärken, da Mütter vorübergehend aus dem Erwerbsleben ausscheiden, um ihre Kinder zu betreuen.
Strategien, die auf eine verstärkte Einwanderung setzen, sind ebenfalls nur bedingt wirksam, da andere europäische Länder mit einem ähnlichen Fachkräftemangel konfrontiert sind. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob eine verstärkte Einwanderung aus EU- und Nicht-EU-Ländern demokratisch vermittelbar und politisch mehrheitsfähig ist.
"Es gibt keine einzelne Strategie, um den Fachkräftemangel abzumildern."
Realistische Anpassungsstrategien an den Fachkräftemangel sind die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung, insbesondere von Frauen, und Effizienzsteigerungen durch Digitalisierungsprozesse. Beide Möglichkeiten sind jedoch begrenzt, da sie womöglich nicht ausreichen um dem Fachkräftemangel in allen Branchen entgegenzuwirken. Es gibt also keine einzelne Strategie, um den Fachkräftemangel abzumildern. Stattdessen erscheint es unerlässlich, alle Möglichkeiten auszuschöpfen und sich gleichzeitig an die Herausforderung anzupassen.
Claudia Neu – Welche Folgen hat der regionale Bevölkerungsrückgang für die öffentlichen Grundversorgung?
Claudia Neu, Professorin für Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Kassel und Göttingen, hat untersucht, wie sich der Bevölkerungsrückgang auf die grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen auswirkt.
Die demografische Entwicklung in Deutschland ist in den vergangenen 35 Jahren regional sehr unterschiedlich verlaufen: Einige ländliche Gebiete haben bis zu 35 % ihrer Bevölkerung verloren, während die Regionen um die Großstädte, wie etwa Berlin oder München, sehr gewachsen sind.
Demografische Disparitäten spiegeln sich auch in ungleichen Altersquotienten. Viele ländliche Gebiete weisen einen hohen Anteil an Menschen über 65 Jahren (nicht nur in Ostdeutschland) und einen Rückgang der jungen Bevölkerung auf. Ein genauerer Blick auf die regionale Demografie im Jahr 2021 ergab für kreisfreie Großstädte ein Verhältnis von 1,76 erwerbstätigen Einwohnern pro Person unter 18 oder über 65 Jahren. Bis 2035 wird dieses Verhältnis voraussichtlich auf 1,61 sinken. In dünn besiedelten ländlichen Kreisen lag das Verhältnis 2021 jedoch bereits bei 1,46 und wird sich bis 2035 auf 1,19 verschlechtern. Das bedeutet, dass in ländlichen Gebieten bis 2035 etwa ein erwerbstätiger Erwachsener eine nicht erwerbstätige Person finanziell unterstützen wird (Fiedler, 2025).
"Generell ist die allgemeine Lebenszufriedenheit in Ostdeutschland etwas geringer."
Das in der Verfassung verankerte Ziel, ausreichenden Zugang zu Infrastruktur und Angeboten der Daseinsvorsorge („Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse) herzustellen, ist bisher nicht erreicht. Dieser Umstand schlägt sich auf die subjektive Einschätzung von regionalen Zukunftsaussichten und die Lebenszufriedenheit nieder. Weniger gute Raumausstattung mit Angeboten der Daseinsvorsorge, ebenso wie sozioökonomische Benachteiligungen einer Region sind mit niedrigerer Lebenszufriedenheit der Bewohner verbunden. Generell ist die allgemeine Lebenszufriedenheit in Ostdeutschland und in den strukturschwachen Regionen im Schnitt etwas geringer. Zugleich zeigen sich große regionale Unterschiede: In wachsenden und wirtschaftsstarken Großstädten ist die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung überdurchschnittlich zufrieden mit der Ausstattung öffentlicher Infrastruktur. In ländlichen Regionen mit strukturellen Herausforderungen und wirtschaftlicher Dynamik sieht es hingegen genau umgekehrt aus: Hier ist die Mehrheit unzufrieden mit der Daseinsvorsorge (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), 2024).
"Abstiegsängste und Verlustnarrative wirken zunehmend entkoppelt von wirtschaftlichen Entwicklungen."
Vermehrt wird untersucht, ob sich Zusammenhänge zwischen den (wahrgenommenen) Lebensbedingungen und populistischen Wahlentscheidungen nachweisen lassen. Lange vernachlässigt wurde der demografische Faktor: Abwanderung und Alterung verbunden mit einer weniger guten Infrastrukturausstattung können Abstiegsängste und Gefühle des „Abgehängtseins“ auslösen und schlussendlich auch in populistischen Wahlentscheidungen münden. Der Deutschlandmonitor 2023 konnte nachweisen, dass Gefühle des „Abgehängtseins“ in allen ostdeutschen Kreistypen (auch den prosperierenden) höher als im Westen ausgeprägt sind. Abstiegsängste und Verlustnarrative wirken zunehmend entkoppelt von wirtschaftlichen Entwicklungen.
"Ein wichtiger Schritt auf dem Weg wird sein, die Gelder aus dem Sondervermögen Infrastruktur einzusetzen."
Um diesem Effekt entgegenzuwirken, schlägt Claudia Neu Maßnahmen zur Verbesserung der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Lebenszufriedenheit in ländlichen Gebieten vor: ausreichende Finanzierung der Kommunen, Revitalisierung der Ortszentren und Schaffung oder Erhalt öffentlicher Räume und Sozialer Orte wie Schwimmbäder. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg wird sein, die Gelder aus dem Sondervermögen Infrastruktur so einzusetzen, dass Bürgerinnen und Bürger in ihrem Nahraum eine unmittelbare Verbesserung ihrer Lebensqualität spüren - auch um den Narrativen des „Abgehängtseins“ zumindest etwas entgegenzusetzen.
Anschließend an diese Diskussion werden die Berliner Demografietage 2025, die am 27. und 28. Oktober in Berlin stattfinden, diese Fragen weiter nachgehen. Sie bieten Gelegenheit für politisch Entscheidende und Expertinnen und Experten, sich über Handlungsoptionen der neuen Bundesregierung auszutauschen und zu erörtern, wie auf die demografischen Veränderungen, die Einfluss auf demokratische Eintellungen haben, reagiert werden kann. Außerdem bieten die Berliner Demografie Tage die Möglichkeit, zu erörtern, wie ähnliche Fragestellungen im Ausland behandelt werden.
Die Berliner Demografie-Tage 2025 werden vom Bundesministerium des Innern, vom Bundesministerium für Gesundheit und vom Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) gefördert.
Literatur
Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). (2024). Gleichwertigkeitsbericht 2024. Für starke und lebenswerte Regionen in Deutschland (p. 226). Die Bundesregierung. https://www.publikationen-bundesregierung.de/pp-de/publikationssuche/gleichwertigkeitsbericht-2024-2296688
Fiedler, C. (2025). Alterung der Babyboomer wird Stadt und Land sehr unterschiedlich treffen. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. https://www.bib.bund.de/DE/Presse/Mitteilungen/2025/2025-04-10-Alterung-der-Babyboomer-wird-Stadt-und-Land-sehr-unterschiedlich-treffen.html