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Wie könnte der demografische Wandel sich auf den Rekrutierungsbedarf der Sicherheitskräfte auswirken? Bereits vor über zehn Jahren hat sich Population Europe erstmals dieses Themas angenommen (s. unten, Wenke Apt, 2013: Broken Arms. Demographic change and Europe’s security capacities, basierend auf ihrer im gleichen Jahr erschienenen Dissertation).
Auf Grund der aktuellen politischen Lage diskutierten bei einer Veranstaltung im Rahmen der Dienstagsdialoge des Einstein Center Population Diversity „Defence Meets Demography: Zur Zukunft des Bedarfs an Sicherheits- und Einsatzkräften in alternden Gesellschaften“ am 29. Juli 2025 drei führende Expertinnen und Experten über die aktuellen Herausforderungen der Sicherheits- und Einsatzkräfte im demografischen Wandel:
- Christian Leuprecht, Professor am Royal Military College of Canada und Direktor des Institute of Intergovernmental Relations an der School of Policy Studies at Queen's University in Kingston, derzeit Visiting Fellow am Wilfried Martens Centre for European Studies in Brüssel,
- Jennifer D. Sciubba, Präsidentin und Geschäftsführerin des Population Reference Bureau, zugleich Senior Associate am Hess Center for New Frontiers des Center for Strategic and International Studies in Washington, D.C.,
- Robert Sieger, Generalleutnant und Präsident des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr in Köln.
- Die Veranstaltung wurde von Andreas Edel, Executive Secretary von Population Europe in Berlin, moderiert.
Sicherheitspolitik am Scheitelpunkt des demografischen Wandels
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist klar: die sogenannte „Friedensdividende” war in Wirklichkeit ein „Friedenskredit“. Europa hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges fast drei Jahrzehnte in Sicherheit gewähnt und hauptsächlich auf die Verteidigungsfähigkeit des transatlantischen Bündnisses vertraut. Länder wie Deutschland oder Frankreich haben von einer Wehrpflicht- auf eine Berufsarmee umgestellt.
Nun muss Europa erhebliche finanzielle Ressourcen einsetzen, um innerhalb kurzer Zeit seine Kapazitäten zur Verteidigungsfähigkeit wieder auszubauen. Es geht dabei nicht mehr nur darum, für einen punktuellen Einsatz in Krisengebieten speziell ausgebildete und ausgerüstete Kräfte zur Verfügung stellen zu können. Wie vor 1990, stehen jetzt wieder die Verteidigung des Bündnisgebiets und die Abschreckung potenzieller Angreifer im Vordergrund – und dieses Bündnisgebiet ist heute deutlich größer und grenzt seit der Osterweiterung der NATO direkt an die Russische Föderation und an ihre Bündnispartner.
Gleichzeitig ist ein Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik im Gange: Eine gestiegene außenpolitische Risikobereitschaft, unverhohlener territorialer Expansionismus, die Missachtung des Völkerrechts zugunsten eines vermeintlichen „Rechts des Stärkeren“ und die Inkaufnahme oder sogar absichtliche Herbeiführung von großen Verlusten unter der Zivilbevölkerung sind in den letzten Jahren von Regierungen überall auf der Welt wieder hoffähig gemacht geworden. Während die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg und den seitdem ausgetragenen bewaffneten Konflikten zu verblassen scheinen, verlieren die Errungenschaften der Nachkriegsordnung mit Blick auf eine von internationalen Institutionen garantierte und den Menschenrechten verpflichtete, regelbasierte Außenpolitik immer mehr an Gewicht.
Um die Bevölkerung Europas vor den dadurch entstandenen Gefahren zu schützen, gilt es mehrere Herausforderungen zu bewältigen:
- Es steht nicht mehr unbegrenzt Vorbereitungszeit zur Verfügung. Wiederholte Provokationen zeigen, dass Russland bereits die Widerstandsfähigkeit der westlichen Allianz testet. Dies geschieht insbesondere durch eine hybride Kriegsführung gegen EU-Staaten mit Cyberattacken, Spionage- und Sabotageakte, Angriffe auf kritische Infrastrukturen wie Stromnetze, Bahnlinien oder Staudämme sowie eine russische Schattenflotte, mit der Sanktionen gezielt unterlaufen werden.
- Höhere Ausgaben für Verteidigung stehen in Konkurrenz zu anderen dringenden Investitionen in Bildung, Infrastruktur oder den Umweltschutz. Gleichzeitig steuern die europäischen Staaten auf Finanzierungsengpässe zu, die sich durch den demografischen Wandel verschärfen, etwa beim Rentensystem, im Gesundheitswesen oder bei der Daseinsvorsorge im ländlichen Raum. Die Politik ist mit der Aufgabe konfrontiert, aufgrund begrenzter Ressourcen Ausgaben zu priorisieren und auch in Bereichen einzuschränken, die unmittelbare Lebensgrundlagen ihrer Bürgerinnen und Bürger betreffen.
- Der Fachkräftemangel verschärft sich: Der demografische Wandel ist schon heute auf dem Arbeitsmarkt spürbar und wird sich in den nächsten beiden Jahrzehnten noch verstärken, wenn die letzten geburtenstarken Jahrgänge der Baby-Boomer in den Ruhestand gehen. 2024 lag der Anteil von Menschen im Alter 65+ an der Bevölkerung im Vergleich zu denjenigen im erwerbsfähigen Alter zwischen 15-64 Jahren in der Europäischen Union bereits bei 33,9 %, in Deutschland bei 35,2 – Tendenz steigend (Eurostat 2025).
Die sicherheitspolitischen Herausforderungen fallen also zeitlich zusammen mit Auswirkungen des demografischen Wandels, die im nächsten Jahrzehnt immer einschneidender werden. Diese strukturellen Belastungen bildeten den Hintergrund für den Dialog über den Fachkräftemangel in den europäischen Sicherheitskräften. Die Diskussion der Expertinnen und Experten machte deutlich, dass es nicht allein an Geld und Material mangelt, sondern zunehmend auch an qualifiziertem Personal.
Im Wettbewerb um die besten Köpfe
- Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung im Bereich der Sicherheits- und Einsatzkräfte steigen die Anforderungen an die Qualifikation des Personals – und damit auch der Wettbewerb um die besten Köpfe. Hier ist mit einer wachsenden Konkurrenz zu unterschiedlichen Wirtschaftszweigen zu rechnen, die entsprechend qualifizierte Fachkräfte abwerben.
- Dieser Umstand betrifft auch den Personalbedarf in den Sozialberufen und im Gesundheitswesen sowie in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge, in denen schon heute verstärkt auf „Seiteneinsteiger“ zurückgegriffen wird oder frühere Mitarbeitende aus dem Ruhestand zurückgerufen werden müssen.
- Das Militär sieht sich nicht als einziges vor diese Herausforderungen an die Personalgewinnung in sicherheitsrelevanten Berufsfeldern gestellt. Auch andere Sicherheits- und Einsatzkräfte wie Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Katastrophenschutz und weitere Hilfsorganisationen haben in Zukunft ein schrumpfendes Rekrutierungspotenzial an dienstfähigen Männern und Frauen zu bewältigen. Dies erschwert die Personalplanung und Einsatzbereitschaft des Militärs zusätzlich und erhöht den Wettbewerb um qualifiziertes Personal.
- Eine besondere Herausforderung stellen bei Kampftruppen die mit dieser Tätigkeit verbundenen Risiken für Leib und Leben dar, wodurch sich deren Attraktivität weiter verringert.
Ein „komplementärer Ansatz“
Da die Vergütungen im öffentlichen Dienst nicht immer konkurrenzfähig sind – insbesondere im Vergleich zu den in der IT-Branche üblichen Gehältern –, kann dem Fachkräftemangel im Sicherheitsbereich nur mit einem „komplementären Ansatz“ (Robert Sieger) begegnet werden.
- Attraktive Angebote zur berufsbegleitenden und berufsqualifizierenden Aus- und Weiterbildung und zum Studium schaffen Anreize für eine Dienstverpflichtung. In vielen Ländern befördern die Verteidigungskräfte dadurch auch soziale Mobilität, insbesondere für Menschen, die sich eine solche Ausbildung oder ein Studium sonst nicht leisten könnten.
- Die unterschiedlichen Aufgabenfelder in Heer, Luftwaffe und Marine, in der Zivilverwaltung, in den Verteidigungsministerien und nachgeordneten Behörden sowie in bi- und multinationalen Organisationen schaffen eine Vielzahl möglicher Karrierewege, die nach der aktiven Dienstzeit in Zivilberufen weitergeführt werden können.
- Der Verteidigungssektor hat angesichts der zunehmenden Automatisierung und Digitalisierung der Kriegsführung wachsende technische Anforderungen und damit einen hohen laufenden Nachqualifizierungsbedarf. Ein hoher Ausbildungsstand an neuester Technik und bereits in jungen Jahren erworbene Führungserfahrung machen die Absolventinnen und Absolventen auch für eine spätere Anstellung in Unternehmen der freien Wirtschaft attraktiv.
„Serving the Nation“
- Der Dienst „für das eigene Land“ oder „die Nation“ ist in vielen Ländern mit sozialem Kapital verbunden, insbesondere in den USA, wie Jennifer Sciubba hervorhebt. Diese Ausgangsmotivation ist in anderen Ländern wie in Deutschland aufgrund der historischen Erfahrungen weniger stark ausgeprägt. Letztlich beeinflusst die Wertschätzung der Streitkräfte in der Gesellschaft aber maßgeblich deren Rekrutierungspotenzial.
- Diese Herausforderung ist vor dem Hintergrund einer an sich positiven Entwicklung zu sehen: Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es – abgesehen vom 11. September 2001 und vereinzelten Terroranschlägen – keinen direkten Angriff auf das transatlantische Bündnisgebiet. In der Bevölkerung Europas herrscht daher kein vergleichbares Bedrohungsbewusstsein vor wie noch zu Zeiten des „Kalten Krieges“. Bei vielen Menschen ist deshalb das Verständnis für möglicherweise notwendige und unpopuläre Maßnahmen, wie beispielsweise die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland, geringer ausgeprägt als noch vor 1990. Unterschiedliche Wahrnehmungen der Bedrohungslage erschweren den gesellschaftlichen und politischen Dialog über diese Fragen.
- Auf der individuellen Ebene spielen intrinsische Motive wie das Erleben von sozialem Zusammenhalt und wechselseitiger Verlässlichkeit innerhalb einer militärischen Einheit eine wichtige Rolle. Ebenso wichtig sind altruistische Motive, wie etwa eine sinnstiftende Arbeit, sich für Freiheit und Demokratie beziehungsweise für die Sicherheit anderer Menschen einzusetzen.
- Entsprechende Berufe setzen eine grundsätzliche Bereitschaft voraus, notfalls auch Waffengewalt einzusetzen und einen anderen dabei schwer zu verletzen, im schlimmsten Falle tödlich. Auch hier kann die Philosophie der Abschreckung von möglichen Angreifern „Don't even try – Versuche es erst gar nicht“ eine Brücke zu Menschen bauen, die einem Einsatz von Gewalt aus Gewissensgründen kritisch gegenüberstehen.
Der „demografische Querschnitt der Bevölkerung“
- Die Zusammensetzung des Personals sollte, wie Christian Leuprecht betont, auch den demografischen Querschnitt der Bevölkerung widerspiegeln, denn die Integration soziodemografischer Vielfalt erhöhe die gesellschaftliche Akzeptanz für das Militär. Die Idee der Wehrdienstleistenden als „Staatsbürger in Uniform“ ist ein zentrales Paradigma der deutschen Bundeswehr. Diese sind heute aber heterogener zusammengesetzt als noch in der Vergangenheit, etwa nach Kategorien wie Alter, Gesundheit, Familienstand, Geschlecht, Ausbildung, Arbeitsmarktzugang oder Herkunft. Dies gilt es bei Rekrutierungen zu berücksichtigen.
- Die Personalrekrutierung öffnet sich zunehmend für ältere und berufserfahrene Personen, die aufgrund altersbedingter körperlicher Einschränkungen nicht mehr in Kampftruppen, aber sehr wohl noch in administrativen, technischen, ausbildenden oder beratenden Funktionen eingesetzt werden können. Hier schlägt die größere Erfahrung älterer Menschen, insbesondere mit beruflichen Herausforderungen oder in kritischen Situationen, zu Buche. Die Altersgrenzen wurden nach Aussage von Robert Sieger gelockert, das Durchschnittsalter der Soldatinnen und Soldaten steige in Deutschland bereits leicht an. Die in der Regel längere Verweildauer älterer Kräfte in einer militärischen Tätigkeit sei ein weiterer strategischer Vorteil dieser Altersgruppe. Umgekehrt profitierten ältere Mitarbeitende von dem Wissensvorsprung ihrer jüngeren Kolleginnen und Kollegen, insbesondere im IT-Bereich. Die Verteidigungskräfte förderten durch Mentoring und Re-Mentoring den Wissensaustausch zwischen älterer und jüngerer Generation.
- Der Anteil von Frauen sei, wie Sieger betont, bei den Sicherheits- und Einsatzkräften zwar kontinuierlich gestiegen, insgesamt aber noch ausbaufähig. In vielen Bereichen des Verteidigungssektors seien Frauen heute bereits aktiver als je zuvor, in den Kampftruppen und in hohen Dienstgraden seien sie aber nach wie vor gering vertreten. Dies sei auch auf die späte Öffnung dieser beiden Bereiche des Militärs für Frauen zurückzuführen. Dabei werde „Female Leadership” grundsätzlich als Vorteil dieser Rekrutierungsgruppe angesehen. Deshalb gebe es das Bestreben, die Anzahl von Frauen in Führungspositionen deutlich zu erhöhen. Das Militär unterscheidet sich in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich von anderen Bereichen des Arbeitsmarkts: die dort zu beobachtenden strukturellen Defizite sind auch hier wirksam, etwa die unterschiedliche Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen in den alten und neuen Bundesländern.
- Derzeit liegt der Anteil von Soldatinnen und Soldaten mit Einwanderungsgeschichte am Personalstand der deutschen Streitkräfte noch deutlich unter ihrem Anteil von gut einem Viertel der Bevölkerung in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2025). Eine stärkere Integration dieser Personengruppe wird langfristig als unverzichtbar angesehen. Die Streitkräfte können eine wichtige Integrationsfunktion übernehmen, indem sie gesellschaftliche Vielfalt abbilden und sozialen Aufstieg ermöglichen.
- Die Rolle von Reservistinnen und Reservisten wird wichtiger – gerade im Kontext des Heimat- und Katastrophenschutzes.
- Die Flexibilität und die Anpassungsfähigkeit der Organisation des Verteidigungssektors halten mit den neuen Herausforderungen noch nicht Schritt. Bei der Führung von Teilzeitkräften, Mitarbeitenden mit kürzerer Verpflichtungszeit sowie von Menschen mit unterschiedlichen soziodemografischen Merkmalen besteht weiterhin Schulungsbedarf.
Fazit und Ausblick
- Die Sicherheits- und Einsatzkräfte stehen vor der Herausforderung, sich innerhalb kurzer Zeit und unter sich in den nächsten zehn Jahren stark wandelnden demografischen und sozioökonomischen Ausgangsbedingungen weiterzuentwickeln. Stärker denn je stehen sie angesichts des Fachkräftemangels unter Wettbewerbsdruck.
- Dies erfordert eine flexible Personalpolitik und die Öffnung gegenüber neuen Rekrutierungspotenzialen, etwa eine stärkere Integration von älteren Menschen, Frauen und Menschen mit Einwanderungsgeschichte.
- Auf gesellschaftlicher Ebene stellt insbesondere die Wertschätzung für Menschen, die Dienst in den Sicherheits- und Einsatzkräften leisten, einen wichtigen Faktor dar.
- Die Wiedereinführung der Wehrpflicht erscheint vor diesem Hintergrund nicht zwangsläufig als die Ultima Ratio, könnte angesichts des Fachkräftemangels aber dennoch unumgänglich sein, wenn sich mit Freiwilligen nicht eine für die Verteidigungsaufgaben ausreichende Sollstärke aufbauen lässt.
Referenzen und Lektüreempfehlungen
Wenke Apt (2013). Broken Arms. Demographic change and Europe’s security capacities (Population & Policy Compact 5), Berlin: Max Planck Society/Population Europe.
https://population-europe.eu/research/policy-briefs/broken-arms
Wenke Apt (2013). Germany's New Security Demographics. Military Recruitment in the Era of Population Aging (Demographic Research Monographs). Dordrecht: Springer Science+Business Media. DOI: https://doi.org/10.1007/978-94-007-6964-9
Eurostat (2025): Old-age-dependency ratio (population 65 years or over to population 15 to 64 years)
https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/tps00198/default/table?lang=en, abgerufen am 29.08.2025.
Christian Leuprecht (2020). The Demographics of Force Generation: Recruitment, Attrition and Retention of Citizen Soldiers. In: Thomas Juneau, Philippe Lagassé, Srdjan Vucetic (Hrsg.), Canadian Defence Policy in Theory and Practice. Canada and International Affairs. Cham: Palgrave Macmillan. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-030-26403-1_11
Tibor Szvircsev Tresch und Christian Leuprecht (2011): Europe without Soldiers? Recruitment and Retention across the Armed Forces of Europe (Queen's Policy Studies Series 146). McGill-Queen's University Press: Montreal.
Statistisches Bundesamt (2025), Gut jede vierte Person in Deutschland hat eine Einwanderungsgeschichte. Pressemitteilung Nr. 181 vom 22. Mai 2025
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/05/PD25_181_125.html (abgerufen am 31.08.2025).